Technisch wären wir nicht so weit weg

Marcel Ritter, Technischer Direktor des RRZE, war mit einer Mitarbeiter-Gruppe der FAU im Mai in Estland, dem europäischen Vorreiter der Digitalisierung. Im Interview verrät er, was Estland seiner Meinung nach anders macht als wir und was bei uns nötig wäre, um diesen Zustand zu erreichen.

Du bist mit der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) nach Estland – konkreter in die Hauptstadt Tallinn – gereist. Welchen Grund gab es für die Reise?

Marcel Ritter: Die FAU hat gute partnerschaftliche Beziehungen zur Tallinn University of Technology (TalTech) und wollte diese im Rahmen des europäischen Austauschprogramms Erasmus, für einen Erfahrungsaustausch im Bereich der Digitalisierung nutzen. Das Programm beinhaltete drei Tage in Tallinn – einerseits an der TalTech aber auch bei anderen staatlichen Einrichtungen (z. B. e-Estonia). Die Teilnehmenden bestanden aus einer gemischten Gruppe mit einem großen Anteil aus der Zentralen Universitätsverwaltung (ZUV). Was man (auch abseits des fachlichen Austausches) festhalten kann ist, dass die Möglichkeit zum Austausch (auch FAU-intern) mehr gebracht hat als irgendwelche Führungskräftetagungen.

Estland ist bekannt für seinen hohen Digitalisierungsgrad. Jeder hat dort Internetzugang – sogar ohne eigenen Rechner. Kostenlose Zugänge über öffentliche Rechner ermöglichen dies. Was habt ihr dort gemacht?

Wir haben uns die TalTech-Universität in Tallinn angeschaut. Auch da muss man sagen, dass sie weit sind – in der Digitalisierung und bei der Integration der unterschiedlichen Systeme und Verfahren. Aber sie sind extrem in der Microsoft Cloud unterwegs. Viele Projekte werden dort transparent gestaltet und deren aktueller Status ist für alle Beteiligten online einsehbar. Dort herrscht auch eine sehr gute und umfangreiche Dokumentation von Prozessen. Das ist auch der markanteste Unterschied für mich, weil bei uns oft hinter der verschlossenen Tür agiert wird und man die Dokumentation nicht oder nur unzureichend einsehen kann. Das ist ein anderes Mindset.

 

Warum bekommen es dann andere – bei gleichen Rahmenbedingungen – hin?

 

Was macht Estland deiner Erfahrung nach anders als wir?

Darauf liefert unser Besuch bei der e-Estonia die beste Antwort: Das ist sowas wie das Promotion-Center der estnischen Business and Innovation Agency. Erstaunlich war dabei, dass Estland genauso wie wir dem EU-Datenschutz unterliegt, aber aus irgendeinem Grund bekommen die ganz andere Lösungen zustande. Wenn bei uns mal wieder jemand den Datenschutz anbringt, muss man sich eigentlich fragen: „Warum bekommen es dann andere – bei gleichen Rahmenbedingungen – hin?“

Woher kommt das deiner Meinung nach?

Estland hat in einer Zeit seine Unabhängigkeit erlangt, als man schon gut digitalisieren konnte. Und Tallinn war schon zu Sowjetzeiten technikaffin. Dazu kam ein Regierungschef, der zwar nicht selbst technikaffin war, sich aber gute Berater geholt hat. Die Politik war der Digitalisierung gegenüber einfach positiv gestimmt. Man hat daher frühzeitig erkannt, dass es notwendig ist, die digitale Unterschrift der händischen Unterschrift gleichzusetzen – und hat das auch konsequent umgesetzt. Außerdem gehört der Umgang mit der Digitalisierung seit Jahrzehnten zum Alltag. So werden die Einwohner in allen Altersgruppen konsequent (z. B. durch Schulungskampagnen) für die Teilnahme an der digitalen Welt vorbereitet. Damit ist die Digitalisierung im Leben angekommen. Ich hatte das Gefühl, dass dort der Mensch im Mittelpunkt steht. Eine ganz markante Aussage war: „Wir sind ein kleines Land, wir können es uns nicht leisten, dass Leute sinnlos Akten durch die Gegend tragen.“

Und was bedeutet das für den einzelnen Bürger?

Aktuell sind 99 Prozent der estnischen Behördengänge digitalisiert. Die Scheidung ist der letzte, der jetzt noch digitalisiert werden muss, aber der steht demnächst an. Den Personalausweis gibt es in Estland mit Chip für Onlinedienste und den Cardreader als Standard dazu. Der digitale Ausweis nützt nicht nur für staatliche Einrichtungen, sondern auch zum Beispiel für Banken statt eines Video-Ident-Verfahrens. Es gibt ein Bürgerportal, das alle Verfahren zusammenführt.

 

Aber diese Art von Transparenz erfordert Mut

 

Aber bedeutet das nicht eine immense Datenflut?

Was die darin verfügbaren Daten angeht, so gilt ein einfaches Prinzip: Daten werden nur an einer Stelle vorgehalten. Dafür gibt es sogar ein Gesetz, das eine unerwünschte Duplizierung der Daten in einem anderen System verbietet. Müssen Daten aus verschiedenen Systemen zusammengeführt werden, so erledigt das X-Road, ein eigens dafür entwickeltes Protokoll. Jede Person hat dort eine eindeutige Personen-ID, die ein nicht schützenswertes Datum ist, sondern dafür da ist, um weitergegeben zu werden. Und die Bürger und Bürgerinnen können ihre eigenen Daten einsehen – ebenso die Protokolle darüber, wer diese wann eingesehen hat. Und auch wenn wir natürlich eine Hochglanzpräsentation erhalten haben, so wurde dabei doch mehr als klar, wie eine maximal transparente Digitalisierung aussehen kann. Aber diese Art von Transparenz erfordert Mut, gerade weil man dabei halt auch Farbe bekennen muss.

Du sagtest gerade, jeder in Estland hat eine Personen-ID. Da musste ich an unser Identity Management (IdM) denken, das in dem Punkt ja ähnlich funktioniert…

Ja, was dem bei uns an der FAU am nächsten kommt, ist unser IdM. Die estnische Software, die hinter der Austausch-Plattform steckt, heißt X-Road, das nennt sich bei uns – leider etwas weniger cool – Datenintegrationsplattform. Man könnte sicher auch an unser IdM noch viele weitere Systeme anbinden, aber es ist schon ein Unterschied, ob ich das für Mitarbeitende und Studierende mache oder für ein ganzes Land.
Aber was uns in Deutschland fehlt, ist der digitale Ausweis – auch als Basis für eine echte digitale Unterschrift.

Gab es auch Situationen, in denen du dachtest: Puh da sind wir (an der FAU) aber weiter?

Nein, um ehrlich zu sein, nein.

Erschreckend.

Ja. Wenn man etwas Positives sagen will: Gerade die TalTech, die ja in der Cloud unterwegs ist, ist schon ein bisschen weit weg von digitaler Souveränität – im Gegensatz zu uns.

Was konkret hast du für die Arbeit mitgenommen?

Ich glaube wir sind durchaus auf dem richtigen Weg. Aber was uns wirklich, wirklich fehlt, sind grundlegende Entscheidungen: zum Beispiel, dass der Ausweis einfach einen Chip bzw. ein persönliches Zertifikat beinhaltet, mit dem man Dokumente rechtswirksam unterschreiben kann. Man muss sich aber auch im Klaren sein, dass es selbst nach einem solchen Schritt Jahre dauert, bis die Technik wirklich für jedermann verfügbar ist.
Was aber noch wichtiger ist als alle Technik oder Regularien: Man muss die Menschen von klein auf mitnehmen, damit sie gewillt und fähig sind, die Vorzüge der Digitalisierung auch zu nutzen.
Technisch wären wir gar nicht so weit weg von Estland. Aber bei den Rahmenbedingungen fehlen uns 30 bis 40 Jahre.

Was würdest du dir für die Digitalisierung an der FAU/am RRZE wünschen?

Um einen Vorgang digitalisieren zu können, muss dieser in allen Einzelheiten beschrieben sein (und das muss der tun, der den Prozess kennt, nicht die IT). Die Computer brauchen auch heute noch ganz konkrete Anweisungen. Und die muss jemand (und aktuell sind das noch Menschen) programmieren – das wiederum ist Aufgabe der IT (die dafür natürlich auch die notwendigen Ressourcen benötigt). Je komplexer der Vorgang, desto mehr Zeit muss in die Programmierung gesteckt werden, und auch jede Umstrukturierung des Prozesses zieht unweigerlich weitere Programmiertätigkeiten nach sich.
Was ich mir deshalb wünsche: formale Anforderungen auf digitale Umsetzbarkeit überprüfen, dann aufräumen (Prozesse bereinigen/verschlanken), dann konsequent digitalisieren, dann nochmal aufräumen, aber diesmal die alten (analogen) Prozesse.

Vielen Dank für das Gespräch!

Weitere Informationen:

Erasmus (intern)
e-Estonia
TalTech

 


Das Gespräch führte Corinna Russow